Rechtzeitig erschien der Bus am frühen Morgen in Richtung Bahnhof. Ich klappte den Fahrradträger, der sich im Frontbereich des Busses befand, herunter und befestigte mein Fahrrad darauf. Der Bus schlängelte sich durch den dichten Verkehr und die nicht endenden Häusermassen. Nach 45 Minuten Fahrt hatten wir dem Amtrak Hauptbahnhof erreicht. Mit Gepäck und Rad ging es durch die imposante Eingangshalle und an den Schaltern vorbei zum Lift, 2 Stockwerke hoch durch einen langen Gang. Dort musste man klingeln und die Türe wurde einem geöffnet. Im Verpackungsraum wurde einem ein Karton ausgehändigt und man konnte mit dem Verpacken beginnen. Danach zahlte ich 15$ für die Schachtel und 5$ fürs Handling und ich war mein Rad los. Ich war froh, dass alles so reibungslos abgelaufen war und kaufte anschliessend einen grossen Kaffee und 2 noch grössere Hefeschnecken. Ich hatte zuvor noch nie so grosse Dinger gesehen (einfach "big"). Danach telefonierte ich der Elisabeth, die meinem schwer erreichbaren Bruder Gerd informieren solle, mich in Martinez abzuholen.
Am Bahnsteig standen beim wartenden Zug mindestens 5 Zugbegleiter und -innen. Ich wurde mit meinem schweren Gepäck und dem Ticket und Pass in der Hand von einer wartenden Schlange, die vor den einzelnen Türen stand, zur anderen verwiesen, bis sich eine Zugbegleiterin erbarmte und ein Kreuzchen in ihrer Liste machte und mir einen Platz zuwies. Etwas genervt liess ich mich in die weichen Polster fallen. In Gedanken stellte ich mir vor, wie das wohl in Europa aussehen würde, wenn der Personenverkehr im gleichen Ausmass abgewickelt würde. Erst einmal könnten nur die Hälfte der Züge eingesetzt werden und unendliche Warteschlangen würden auf einen Sitzplatz hoffen. Mit 15 Minuten Verspätung setzte sich dann der Zug um kurz vor 10 Uhr träge in Bewegung und rollte aus dem Bahnhof. Mir stand jetzt eine Bahnfahrt bevor, die 14 Stunden dauerte. Auf die Kilometer umgerechnet würde das heissen: von Zürich nach Hamburg mindestens 24 Stunden.
Ich hatte mich jedoch bald wieder beruhigt und genoss die herrliche Aussicht. Bald erkannte ich auch einige Teilstrecken, auf denen ich mit dem Rad lang gefahren war und konnte sagen: "ach, da ist ja der Zeltplatz wo Du wild übernachtet hast". Es lief alles wie ein alter, spannender und bekannter Film ab. Bei der geringen Geschwindigkeit des Zuges hatte man wunderschöne Ausblicke auf die einzelnen Buchten und Klippen und genügend Zeit, sie sich in aller Ruhe anzuschauen. Ach, noch etwas: Es war verboten, während der Fahrt auszusteigen, um für die Frau oder Freundin ein Blumensträusschen zu pflücken.
Mein Sitznachbar (ein älterer Herr) erzählte mir, dass er in LA lebt und er jetzt seine Tochter und seinen kleinen Enkel in San Jose besuchen würde. Er reiste das erste Mal mit diesem Zug. Bei jedem Halt auf der offenen Strecke wurde er ein bisschen nervöser. Er hatte gehört, dass ein Zug im Norden der Staaten sich mal 12 Stunden verspätete . Ich konnte mir das ohne weiteres vorstellen bei dieser unprofessionellen Abwicklung beim Einsteigen. Da sind bei einem grösseren Ansturm von Reisenden locker mal 12 Stunden zusammen. Jedes Mal wenn die Bremsen zischten sprang er auf und sagte: "jetzt hält er schon wieder". Mit der Zeit gehörte diese Reaktion zu jedem Bremsmanöver dazu. Die einzelnen Stopps waren jedoch im Fahrplan mit einkalkuliert, denn die ganze Strecke ist nur einspurig und es gibt nur wenige Ausweichstellen. Zudem hat der Güterverkehr Vorfahrt.
Gegen Abend wurde die Strecke etwas langweilig und ich machte ein bisschen die Augen zu und döste. Wie auch mein Sitznachbar, erreichte ich Martinez pünktlich auf die Minute kurz nach Mitternacht. Ich stieg aus dem Zug und ich war der einzige Passant weit und breit. Zuerst suchte ich mein Radbox, die ich nach längerem Umherirren endlich fand. Anschliessend sah ich meinen Bruder. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Also ist es der Elisabeth doch gelungen, eine Verbindung mit Gerd herzustellen. Leider hatte er nur sein kleines Auto dabei und wir mussten damit erst nach Concord fahren und das grosse Auto holen, um die riesige Kiste aufzuladen. Müde übernachtete ich anschliessend bei Gerds Freundin Margarita.
Ich hatte am Ende meiner Radtour 8189 Kilometer auf dem Fahrradcomputer.
|