Das bittere Ende

16. Woche, 28. August - 3. September 2006
Gerne wäre ich noch zwei Tage an dem prächtigen Strand von San Clemente geblieben, aber die Ordnungshüter wären mir dann doch auf die Schliche gekommen. Also fuhr ich am Dienstag ein Stückchen weiter und fand am Doheny Beach Campground eine neue Bleibe. Ich verbrachte auch hier die Zeit mit Schwimmen und Faulenzen.
 
       Nach zwei Tagen wurde es Zeit, nach Los Angeles zu kommen, denn ich wollte zum Wochenende in San Francisco sein. Am frühen Morgen fuhr ich los, um rechtzeitig ein Motel in der Nähe des Flughafens zu finden. Als ich Manhattan Beach erreicht hatte, bog ich rechts ab und steuerte den Internationalen Flughafen an. Dabei musste ich auf den sehr stark befahrenen, vierspurigen Highway 1. Nach zwei weiteren Horrorkilometern auf der Strasse musste ich völlig überrascht einen 300m langen Tunnel durchfahren. Ich gab ordentlich Gas, um so schnell wie möglich das dunkle Loch hinter mich zu bringen. Dabei übersah ich einen 1,5m langen Wasserabfluss, der keine Querstege hatte. Ein abruptes Ausweichmanöver war bei dem starken Verkehr auch nicht mehr möglich. Wenige Kilometer vor meinem Ziel passierte das Unausweichliche! Ich krachte mit voller Wucht mit dem Hinterrad zwischen die Stege. Dabei wurde ich beinahe aus dem Sattel geschleudert.

Bei dem gewaltigen Aufschlag sah ich mich schon im Krankenhaus mit Bandagen am Kopf, den Beinen und Händen im Streckbett liegen. Natürlich hatte ich einen Platten. Ich schob mein Rad das letzte Stück aus dem Tunnel und reparierte das Loch. Eine Speiche hatte sich in den Schlauch gebohrt. Erst nach der Reparatur bemerkte ich mit Entsetzen das Ausmass des Schadens. Meine Felge hatte an drei Stellen gewaltige Risse, sodass ein weiteres Fahren auf dem Rad nicht mehr zu verantworten gewesen wäre. Nach fünf Kilometern Geschiebe fand ich ein sehr einfaches Motel, in dem ich an der Rezeption für zwei Tage eincheckte. Von einem unfreundlichen Chinesen bekam ich noch widerwillig Auskunft, wie ich am besten zum Amtrak Hauptbahnhof gelange. Die Nacht verbrachte ich so ziemlich unruhig, denn ich konnte beim Hinausblicken aus dem Fenster jede Minute fast erkennen, wie die Flugkapitäne ihre Maschinen zur Landebahn steuerten. Hätten sie die Hand aus dem Fenster gehalten, hätte ich sie höflich begrüssen können.
 
Anderentags fuhr ich mit einem Stadtplan ausgerüstet mit dem Bus in die City. Ich fand den Amtrak Hauptbahnhof sofort und ging zur Information. Eine nette ältere Dame gab mir bereitwillig Auskunft und erklärte mir, wo ich mit dem Rad hingehen müsste, um es verpackt zu transportieren. Mit dem Ticket in der Tasche machte ich noch einen Ausflug in die City und besuchte das sehr moderne Gebäude eines Konzertsaals. Alles in Holz gehalten mit wilden Bögen in der Decke. Der Innenarchitekt hatte sich wirklich mal etwas überlegt. Nachdem ich im Innenhof einer Galerie mein Picknick gegessen hatte und durch das Chinesenvierte gelaufen war, fuhr ich mit dem Bus wieder in Richtung Motel, wo ich um 16 Uhr eintraf. Im Zimmer wurden meine diversen Gepäckstücke in meine wasserdichte Tasche gepackt.
 
Amtrak Nun machte ich mich daran, die Pedale am Rad zu entfernen. Mit aller Kraft und Gewalt mit meinem ächzenden Schlüssel: die Dinger liessen sich nicht lösen. Ich war der Verzweiflung nahe. Mit den Pedalen würde mein Rad nicht transportiert werden. Also auf zur nächsten Tankstelle. Die erste hatte geschlossen und im Hinterhof einer Spedition hatte ich auch kein Glück. Es war ein Rennen mit der Zeit. An einer der zahlreichen Tankstellen wollte mir ein Autofahrer mit seiner bescheiden Ausrüstung helfen und die Uhr tickte immer weiter und ich immer nervöser. Wirklich im letzten Augenblick, ich war gerade dabei aufzugeben, sah ich eine Autoreparaturwerkstatt, dessen Monteur gerade damit beschäftigt war, den Rollladen herunter zu kurbeln. Ich fragte ihn bittend (mit Hundeäugchen), ob er nicht noch meine Pedale lösen könne. Unter dem Motto: "Kein Problem für einen mexikanischen Supermonteur" und mit geschwellter Brust suchte er nach dem passenden Schlüssel in seinem armseligen Werkzeugkasten. Sein älterer Chef, der aus Peru stammte und schon viele Jahre hier lebte, schaute aus einiger Entfernung dem Schauspiel zu. Ein Schlüssel nach dem anderen wurde entweder verbogen oder gleich ausgerissen. Dicke Schweissperlen standen dem Monteur auf der Stirn. Jetzt kam er mit schwereren Geschützen angefahren. Mein Rad wurde mit einem Pressluftschlüssel massakriert und das Resultat war ein gebrochener Schlüssel. Ich war schon lange zum Aufgeben bereit, aber nicht der Monteur! Aufgeben gab es bei ihm wohl überhaupt nicht. Nach über einer Stunde harter Arbeit ging er zu einem Nebenraum. Ich war der festen Überzeugung, dass er jetzt mit einer Stange Dynamit auftauchen würde. War aber nicht so, nur im Gesicht lächelnd, hielt er einen brandneuen Gabelschlüssel in der Hand. Mit einem Verlängerungsrohr und dem Schlüssel waren die Pedale nach weiteren 10 Minuten gelöst. Wenn ich die Arbeitszeit in Betracht zog, sah ich zurecht 100$ aus meinem Portemonnaie flattern. Ich fragte den Chef, was ich zu zahlen hätte und er sagte "nichts". Da war ich also platt, in einem Land des Business so was zu erleben. Ich gab dem ausserordentlich freundlichen Mexikaner 20$ Trinkgeld. Schliesslich hatte er die mexikanische Mechanikerehre bravourös verteidigt und ich meine Pedale gelöst. Wow, war ich froh…
 
Union Station Los Angeles Rechtzeitig erschien der Bus am frühen Morgen in Richtung Bahnhof. Ich klappte den Fahrradträger, der sich im Frontbereich des Busses befand, herunter und befestigte mein Fahrrad darauf. Der Bus schlängelte sich durch den dichten Verkehr und die nicht endenden Häusermassen. Nach 45 Minuten Fahrt hatten wir dem Amtrak Hauptbahnhof erreicht. Mit Gepäck und Rad ging es durch die imposante Eingangshalle und an den Schaltern vorbei zum Lift, 2 Stockwerke hoch durch einen langen Gang. Dort musste man klingeln und die Türe wurde einem geöffnet. Im Verpackungsraum wurde einem ein Karton ausgehändigt und man konnte mit dem Verpacken beginnen. Danach zahlte ich 15$ für die Schachtel und 5$ fürs Handling und ich war mein Rad los. Ich war froh, dass alles so reibungslos abgelaufen war und kaufte anschliessend einen grossen Kaffee und 2 noch grössere Hefeschnecken. Ich hatte zuvor noch nie so grosse Dinger gesehen (einfach "big"). Danach telefonierte ich der Elisabeth, die meinem schwer erreichbaren Bruder Gerd informieren solle, mich in Martinez abzuholen.

Am Bahnsteig standen beim wartenden Zug mindestens 5 Zugbegleiter und -innen. Ich wurde mit meinem schweren Gepäck und dem Ticket und Pass in der Hand von einer wartenden Schlange, die vor den einzelnen Türen stand, zur anderen verwiesen, bis sich eine Zugbegleiterin erbarmte und ein Kreuzchen in ihrer Liste machte und mir einen Platz zuwies. Etwas genervt liess ich mich in die weichen Polster fallen. In Gedanken stellte ich mir vor, wie das wohl in Europa aussehen würde, wenn der Personenverkehr im gleichen Ausmass abgewickelt würde. Erst einmal könnten nur die Hälfte der Züge eingesetzt werden und unendliche Warteschlangen würden auf einen Sitzplatz hoffen. Mit 15 Minuten Verspätung setzte sich dann der Zug um kurz vor 10 Uhr träge in Bewegung und rollte aus dem Bahnhof. Mir stand jetzt eine Bahnfahrt bevor, die 14 Stunden dauerte. Auf die Kilometer umgerechnet würde das heissen: von Zürich nach Hamburg mindestens 24 Stunden.

Ich hatte mich jedoch bald wieder beruhigt und genoss die herrliche Aussicht. Bald erkannte ich auch einige Teilstrecken, auf denen ich mit dem Rad lang gefahren war und konnte sagen: "ach, da ist ja der Zeltplatz wo Du wild übernachtet hast". Es lief alles wie ein alter, spannender und bekannter Film ab. Bei der geringen Geschwindigkeit des Zuges hatte man wunderschöne Ausblicke auf die einzelnen Buchten und Klippen und genügend Zeit, sie sich in aller Ruhe anzuschauen. Ach, noch etwas: Es war verboten, während der Fahrt auszusteigen, um für die Frau oder Freundin ein Blumensträusschen zu pflücken.

Mein Sitznachbar (ein älterer Herr) erzählte mir, dass er in LA lebt und er jetzt seine Tochter und seinen kleinen Enkel in San Jose besuchen würde. Er reiste das erste Mal mit diesem Zug. Bei jedem Halt auf der offenen Strecke wurde er ein bisschen nervöser. Er hatte gehört, dass ein Zug im Norden der Staaten sich mal 12 Stunden verspätete . Ich konnte mir das ohne weiteres vorstellen bei dieser unprofessionellen Abwicklung beim Einsteigen. Da sind bei einem grösseren Ansturm von Reisenden locker mal 12 Stunden zusammen. Jedes Mal wenn die Bremsen zischten sprang er auf und sagte: "jetzt hält er schon wieder". Mit der Zeit gehörte diese Reaktion zu jedem Bremsmanöver dazu. Die einzelnen Stopps waren jedoch im Fahrplan mit einkalkuliert, denn die ganze Strecke ist nur einspurig und es gibt nur wenige Ausweichstellen. Zudem hat der Güterverkehr Vorfahrt.

Gegen Abend wurde die Strecke etwas langweilig und ich machte ein bisschen die Augen zu und döste. Wie auch mein Sitznachbar, erreichte ich Martinez pünktlich auf die Minute kurz nach Mitternacht. Ich stieg aus dem Zug und ich war der einzige Passant weit und breit. Zuerst suchte ich mein Radbox, die ich nach längerem Umherirren endlich fand. Anschliessend sah ich meinen Bruder. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Also ist es der Elisabeth doch gelungen, eine Verbindung mit Gerd herzustellen. Leider hatte er nur sein kleines Auto dabei und wir mussten damit erst nach Concord fahren und das grosse Auto holen, um die riesige Kiste aufzuladen. Müde übernachtete ich anschliessend bei Gerds Freundin Margarita.

Ich hatte am Ende meiner Radtour 8189 Kilometer auf dem Fahrradcomputer.