Kalifornien, Land der grossen Freiheit

9. Woche, 10. - 16. Juli 2006
Ich wollte meine Essensvorräte am Montagvormittag den 10. Juli bei einem Safewaymarkt ergänzen, als eine ausgewanderte Berlinerin mit ihrem Freund auf mich zusteuerte und ich ihrem Redefluss ausgesetzt wurde. Bei Fragen die sie mir stellte, wurde erst gar nicht auf die Antwort gewartet, sondern wie bei einem Bergbach, der mit unverminderter Geschwindigkeit den Berg herunter fliesst, weiter gesprochen. Das ist auch eine Art Begabung. Ihr Lebenspartner verstand nur "Bahnhof" da er der deutschen Sprache nicht mächtig war und nickte ihr bei jeder Atempause (kurz bevor sie blau anlief) freundlich lächelnd zu. Das sah ein Blinder, dass die Beiden sich noch nicht so lange kannten, sonst hätte der Freund sicher schon ein Pflaster auf ihren Sprechapparat geklebt. Nach mehr als einer halben Stunde konnte ich sie endlich abwimmeln und im Supermarkt dann das nötigste einkaufen. In der Süsswarenabteilung stand sie dann plötzlich wieder neben mir und belehrte mich über die in den Regalen angebotene Schokolade und welche ich kaufen sollte. Als ich sie endlich wieder abgewimmelt hatte, schaute ich nicht nur in den Gestellen nach Waren, sondern gleichzeitig nach der Nervensäge, die immer noch in meiner Nähe herum schwirrte. Nach dem Einkauf verdrückte ich mich erst einmal hinter dem Gebäude, ass Schinken mit Brot und trank eine Cola. Als sich meine strapazierten Nerven beruhigt hatten, wurde die Reise fortgesetzt, lange Zeit mit dem Gedanken, die Dame könnte mit ihrem Freund aus irgend einem Gebüsch am Strassenrand erneut auftauchen.
 
         Nach einigen Kilometern verflogen jedoch diese Gedanken, denn ich musste zwei rechte Hügel mit jeweils 250m Höhe überwinden. Am Nachmittag fuhr ich noch einige Kilometer mit einem jungen Amerikaner, der von Seattle nach San Francisco wollte. In Waldport ging mir jedoch im wahrsten Sinne die Luft aus. Nicht wegen meiner Kondition, sondern vielmehr an meinem geplagten Hinterrad. An einer Tankstelle musste ich eine Zwangspause einlegen und den Schaden beheben. Da ein Brunnen vorhanden war und ich die Schadstellen schnell ausfindig machen konnte, wurden gleichzeitig die beiden defekten Ersatzschläuche repariert. Nach der Reparatur wollte ich noch als Goodwill Benzin für meinen Kocher in der Tankstelle kaufen. Der Verkäufer meinte, er dürfe mir in den Benzinbehälter keine brennbaren Füssigkeiten einfüllen. Ich meinte darauf hin, dass ich selber die Benzinflasche füllen würde, worauf er mich ganz entsetzt ansah und meinte, dass es sein Job sei. Also kein Benzin in Oregon? An der nächsten Tankstelle wurde das Spielchen wiederholt, nur dass ich gleich den Benzinschlauch in die Hand nahm. Das war ein grosser Fehler! Der Tankwart dachte sofort, ich würde ihm seinen Job wegnehmen und rang nach Worten, die ihm im Hals stecken blieben. Ich erklärte ihm vorsichtig, dass ich nur Angst hätte, er würde in eine Einliterflasche zwei Liter hineinpressen wollen, was bei einer früheren Reise in Norwegen auch nicht gelang und sich ein grosser See damals auf dem Betonboden ausbreitete. Souverän und mit künstlerischem Geschick füllte er mir dann theatralisch meine Benzinflasche, was mit einem besonderen Dank meinerseits gewürdigt wurde.
 
Jetzt noch ein Tipp für Radler, die wie ich wild campen wollen und keinen geraden, ebenen Platz finden. "Geht zu einem Flugplatz". Ich habe es an diesem Abend so gemacht und konnte sogar noch das abgemähte Gras unter mein Zelt schaufeln. Ich habe geschlafen wie im 7. Himmel.

Am Morgen war es dann aber deftig neblig. Mein Zelt war "pitsche, patsche nass" und musste in den sonnigen Mittagsstunden ausgebreitet werden, damit es am Abend wieder bewohnbar war. Von einem Visitorpoint konnte ich die ersten Seelöwen bestaunen, die sich träge in der Sonne räkelten.
 
 
 
         An einem See, hinter der Ortschaft Reedsport, schlug ich mein Lager auf und nahm ein kurzes Bad. In den letzten trüben Tagen hatte sich die Brut der Mücken geradezu prächtig entwickelt, nun auf der Suche nach Nahrung, umschwirrten sie mich zu Hunderten. Ich lieferte mir einen heftigen und erbitterten Kampf, erbarmungslos streckte ich sie zu Dutzenden nieder. Mein Schwert (in diesem Fall mein Taschentuch) durchschnitt die Luft mit einem Pfeifen und traf meinen Gegner noch im Flug. So rollten die Köpfe, und ich stand in einem Berg von Leichen auf der Isomatte. Doch dieser Kampf erwies sich als aussichtslos. Zu groß war die Übermacht meines Gegners - für einen, den ich niederstreckte, kamen zwei neue Mücken aus der Reserve. Außer Atem und völlig erschöpft musste ich mich geschlagen geben und den Rückzug antreten. Auch ich hatte unter den Kampfhandlungen gelitten: mein Körper war übersät mit Einstichstellen und Schwellungen. Schnell schlug ich das Zelt auf, mit der Gewissheit, zumindest in der nächsten Zeit erst einmal nicht wieder an einem See zu nächtigen. In der Sicherheit meiner Burg hörte ich noch lange die Geräusche ihrer Flugbewegungen, wie sie lauernd ihre Runden drehten.
 
Ausser einem Platten am Hinterrad und kühler Witterung war eigentlich nichts Erwähnenswertes zu berichten. Ich war relativ schnell am Morgen unterwegs und war gerade eine Steigung hochgefahren, da sah ich einen Rastplatz, den ich ansteuerte. Ein weiterer Amerikaner mit Gattin fragte mich, wie alle anderen auch, wo ich denn gestartet sei. Ich sagte ihm, dass ich am 17. Mai in Anchorage gestartet sei. Darauf er: "Wo ist das"? Da blieb mir fast die Luft weg, aber nicht von der Bergfahrt. Warum fragen denn diese Geografie-Tiefflieger erst und wissen anschliessend erst nicht, wo sich diese Stadt befindet. Mit grossem Einfühlungsvermögen erklärte ich dann, dass es relativ weit im Norden liegt und der dazu gehörende Bundesstaat Alaska sei. Sollte mich noch einmal einer in diese Richtung fragen, habe ich mir vorgenommen als Ausgangspunkt "Washington" anzugeben. Das sollte doch jeder kennen!

Trotz des kühlen, trüben Wetters war der Tag erneut ein voller Erfolg. Vor der Ortschaft Bandon wurde gezeltet und zur Belohnung gab es als Spaghettiabwechslung Fisch mit Kartoffelpüree. Schmeckte lecker!

Der Donnerstag war gezeichnet von Sprühregen, Kälte und Nebel. Richtiges "Zuhausebleibwetter", was ich auch am frühen Nachmittag, auf dem Tacho beim Zelt aufstellen hinter Orford, ablesen konnte (45km, ein sogenannter Negativrekord). In dem Fall hätte ich am Morgen erst gar nicht starten müssen. "Macht ja nichts, dafür bin ich Morgen ein bisschen früher in Kalifornien, und da wird sowieso alles besser", dachte ich.
 

 
  Die drei Naturbrücken in Oregon
 
Am Freitag, den14. Juli 2006 überquerte ich die Grenze zu Kalifornien! "Viele Amerikaner glauben, dass man wirklich erst dann am Ziel seines Lebens angekommen ist, wenn man endlich in Kalifornien lebt, im Land der ganz großen Freiheit …" hab ich in einem alten GEO Spezial gelesen, und "Lonely Planet" kündigt in seinem Reiseführer einleitend an: " … California will provide you with dreams enough for a lifetime!" WOW! Das weckt hohe Erwartungen, die erst einmal erfüllt werden wollen.
Soviel schon vorneweg: Sie werden es!
 
 
 
Gleich südlich der Grenze tauche ich in eine dramatische Naturszenerie ein. Hier stehen die letzten Bestände der Redwood Forests, die einst die gesamte kalifornische Küstengebirgsregion beherrschten. Redwoods gelten als die höchsten Bäume der Welt. Einige Exemplare werden über 100 Meter hoch und erreichen ein Alter von bis zu 2000 Jahren. Doch das sind Zahlen, und die vermögen nicht wiederzugeben, welche majestätische Schönheit diese Bäume umgibt. Im Prairie Creek Redwood State Park wanderte ich hinein in einen Wald, der seinesgleichen sucht.
 
         Wie Säulen steigen die Bäume in den Himmel. Die nackten Stämme öffnen sich erst weit oben zu einer gewaltigen Krone, formen ein erhabenes Gewölbe, in dem ein komplexer Mikrokosmos existiert. Zahlreiche Pflanzen finden dort oben einen Nähr-"boden". Auf einer Tafel war zu lesen: 13 verschiedene Arten umfasst dieses Biotop im Dach des Waldes, darunter auch wieder junge Redwoods. In der Krone eines einzigen Baumes im State Park zählt man 148 Triebe, die hier in luftiger Höhe selber gewaltige Ausmaße erreichen können, und wiederum neuen Lebensraum schaffen für Pflanzen und auch Tiere, die nie hinabsteigen auf den Grund, über den wir da wandern. So entsteht fünfzig Meter über dem Boden ein zweiter, artenreicher Wald, eine neue Generation, getragen von den eigenen Ahnen. Wenn es denn einen gestaltenden Schöpfer gibt, so erschuf er hier sein Meisterwerk, eine Kathedrale von erhabener Schönheit. Den ganzen Tag verbringe ich in den Wäldern, besteige auf schmalen Pfaden steile Höhen, durchwate kristallklare Bachläufe und höre in der Ferne das Grollen des Pazifiks. In Jahrmillionen ist hier eine Welt entstanden, die der Mensch - nein, die der europäische Einwanderer mit seinem göttlichen Auftrag, sich die Erde Untertan zu machen - in weniger als 200 Jahren fast vollständig vernichtet hat. Ganze vier Prozent der einstigen Redwood Wälder sind erhalten geblieben!
 
Es sind immer wiederkehrende Rituale, die dem Unterwegssein einen Hauch von "Normalität" und "Alltäglichkeit" verschaffen: mein Aufbau des Lagers am Abend z.B. läuft nach einem eingespielten Muster ab, ebenso der Abbau am nächsten Morgen. Das ist gut so und wichtig aus zweierlei Gründen: erstens erleichtert es das Reisen ungemein (die ganze Auf- und Abbauprozedur erledigt sich in null Komma nix). Zweitens stelle ich fest, dass - gerade weil es ja auf solch einer Reise keinen Alltag gibt - ich gerne an solchen routinierten Abläufen festhalte. Sie bilden in einer ständig wechselnden, fremden Umgebung quasi das vertraute, verlässliche Element. Mein Frühstück folgt solch einem Ritual:

Ich schäle mich morgens bei Sonnenaufgang aus dem Schlafsack und der erste verschlafene Blick ist der momentanen Wetterlage gewidmet. Dann wird der Benzinkocher im Freien aufgestellt und vorgeheizt. In der Zwischenzeit wird Wasser in den Kochtopf gefüllt und auf die Kochplatte gestellt. Dann werden Marmeladestullen geschmiert und das heisse Wasser in die Thermoskanne gefüllt. Der Wasserrest wird für die morgendliche Toilette benötigt. Beim Frühstücken wird der Schlafsack, wenn es das Wetter zu lässt, gelüftet. Die Abbau- und Beladungsprozedur wird im gleichen Rahmen abgewickelt. Das Fahrrad in der Hand wird noch ein letzter Blick auf den verlassenen Zeltplatz geworfen und ein Check des Tachos durchgeführt…und dann kann der Tag beginnen!
 
 
 
So gestaltete sich auch der Sonntagmorgen (16. Juli 2006). Ich hatte südlich von Orick, auf einer Klippe mein Nachtlager aufgestellt und konnte die ganze Nacht das Grollen und Tosen der aufgebrachten See hören und bin nach der morgendlichen Zeremonie etwas erschöpft losgefahren. In dem hügeligen Gelänge war der Highway 101 relativ schmal und kurvenreich. Die Pannenstreifen waren schon lange verschwunden. Zudem fahren die Amerikaner teilweise mit übergrossen Stollenreifen, dass man schon bei dem Krach, den die Reifen verursachen, Angst bekommt. Zudem sprechen die überdimensionierten Achsen auch nicht für des Radfahrers Sicherheit. Beim Anblick eines solchen Vehikels muss man zum Schluss kommen, dass der Besitzer abseits der Strasse, 100km in der Wüste wohnt und nicht anders zu seinem Heim kommen kann. Ich sagte mir "Jedem Kind sein Spielzeug"

Nachmittags erreichte ich Eureka und hatte grossen Hunger. In einem Supermarkt wurde der Vorrat aufgebessert und an einem, neben der Kasse befindlichen Mexikanerimbiss, Taccos gegessen. Dabei fiel mir auf, dass ich seit langem wieder jemanden herzhaft lachen hörte. "Also gibt es das auch noch" dachte ich und drehte mich zu den aufmunternden Geräuschen um. Es waren zwei junge Mexikanerinnen, die sich aufgeregt unterhielten.
 
Tachostand nach 9 Wochen 6245km